- Jürgen Kiel, Autor

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Die Wittgenstein-Therapie

Ein Basler Unternehmer, der immer schon als Kontrollfreak gegolten hatte, war so neurotisch geworden, dass er sich einer Therapie unterziehen musste. Zuletzt war er nicht mehr arbeitsfähig, da er sich permanent gezwungen sah, aus seinem Büro in die Garage zu laufen, um zu kontrollieren, ob er sein Auto auch wirklich verriegelt hatte. Verständlicherweise wurde der Mann von seinen Mitarbeitern als Büroplage betrachtet.

Eines Tages beschloss er, einen philosophischen Therapeuten aufzusuchen. Philosophische Therapeuten sind in der Schweiz sehr beliebt, besonders unter Medienstars und Intellektuellen. Da das Problem des Unternehmers die fehlende Gewissheit war, beschloss der Therapeut, mit Texten des Philosophen Ludwig Wittgenstein zu arbeiten, der sich viele kluge Gedanken zum Thema Gewissheit gemacht hatte. Es erwies sich als richtige Entscheidung.

Gleich zu Beginn der ersten Sitzung sagte der Unternehmer: "Mein Problem stellt sich folgendermaßen dar: Fast alles was ich weiß, weiß ich lediglich aus zweiter Hand. Aber wer weiß schon ob alles stimmt, was die Leute erzählen? Die meisten machen sich darüber keine Gedanken. Ich schon. Ich will Gewissheit. Diese nie vollständig besitzen zu können, treibt mich zum Wahnsinn!"
"Man kann das Zweifeln auch zu weit treiben", antwortete der Therapeut. "Zum Beispiel sind meine Beine unter diesem Schreibtisch verborgen. Also: Wer gibt Ihnen die Gewissheit, dass ich keine Bocksfüße habe?"
"Sie verstehen genau was ich meine", sagte der Unternehmer, halb erleichtert. "Zum Beispiel frage ich mich oft, wenn ich nachts im Bett liege, ob nicht die Möbel lebendig werden, sobald ich eingeschlafen bin. Doch vor allem die Eifersucht gegenüber meiner Frau macht mir zu schaffen und dass sich meine Mitarbeiter von mir kontrolliert fühlen."

In den folgenden Sitzungen widmeten sich die beiden den Texten Ludwig Wittgensteins. Als Ergebnis der Lektüre empfahl der Therapeut dem Unternehmer, seine Zweifel weder als Unsinn abzutun, noch sie als wahr zu betrachten. Vielmehr drückten sie nichts anderes als seine spezifische Existenzweise aus.
Denn Wittgenstein hatte geschrieben, so wie man seine Zweifel akzeptieren kann, so kann man in die Welt des Nichtzweifelns wechseln.

"Aber muss ich nicht alle Behauptungen kritisch prüfen?", fragte der nicht vollständig überzeugte Unternehmer.
"Was als ausreichende Prüfung einer Aussage gilt", antwortete der Therapeut, also Wittgenstein, "gehört zur Logik. Es ist eine Vereinbarung, die innerhalb unseres Bezugssystems gilt. Zweifel ist darin selbstverständlich möglich, aber nicht notwendig."

Allmählich erkannte der Unternehmer, dass die Welt der Zweifler weder subtiler noch interessanter war als die Welt der gewöhnlichen Menschen, die vor sich hin lebten, ohne ständig alles zu bezweifeln, und dass die Menschheit stets eine große Menge Ungewissheit ertragen muss. Nach zwanzig Sitzungen hatten beide den Eindruck, dass die Therapie erfolgreich verlaufen sei und der Unternehmer gelassener in sein bisheriges Leben zurückkehren könne, was dieser auch tat.

Jahre später stieß der Therapeut noch einmal auf den Namen des Unternehmers. Eine Zeitungsreportage schilderte die Machenschaften einer obskuren Sekte, die von einem wohlhabenden Schweizer Unternehmer gegründet worden sei, und deren Anhänger daran glaubten, dass vor hunderttausend Jahren Außerirdische auf der Erde gelandet seien, um bestimmte Menschen im Laufe von hunderttausend Jahren zu Übermenschen und somit zu Herren des Universums zu machen, was also in genau diesem Jahr anstünde, und weshalb die Behörden sich gezwungen sahen, besagter Sekte aus Sicherheitsgründen ein rasches Ende zu bereiten.

 
 
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