- Jürgen Kiel, Autor

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Ein Übersetzer

Bekanntlich ist das Übersetzen von Literatur eine schwierige und häufig schlecht bezahlte Tätigkeit, was einen gewissen Typ von Übersetzer nicht davon abhält, jene wahnwitzigen Aufträge anzunehmen, die selbst hartgesottene Kollegen erbleichen lassen.
Zu den selbstzerstörerischen Übersetzern gehörte Sebastian Kromschmidt. Er hatte sich dem Werk des argentinischen Romanciers Fernando Rivas verschrieben. Rivas umfangreicher Roman Abend einer Gartenlampe gehörte lange Zeit zu den offenen Geheimnissen des südamerikanischen Magischen Realismus, war jedoch zu jener Zeit, als der südamerikanische Magische Realismus weltweit erfolgreich war, von der Kritik übersehen worden.
Eines Tages erhielt Kromschmidt, nachdem er jahrelang bei Verlagen für dieses Buch geworben hatte, den Auftrag, die Gartenlampe vom Spanischen ins Deutsche zu übertragen. Von Beginn seiner Tätigkeit an sah er in dem Buch einen gewaltigen Felsbrocken, den er vermutlich niemals würde auf die andere Seite des Berges befördern können.
Je tiefer Kromschmidt in die Geheimnisse der Gartenlampe eindrang, desto unüberwindlich gestalteten sich die Schwierigkeiten für den Übersetzer.

Die Handlung des Romans spielt gleichzeitig im Buenos Aires des Jahres 1930, im Mittelalter und im Jahr 2055. Der Held, Lucius Ganghofer, Spross einer eingewanderten deutschen Familie, spricht den Slang gewisser Vorstädte von Buenos Aires, versetzt mit süddeutschen Archaismen. Weit ausgreifend, behandelt der Roman umfangreiches Wissen der Zeit um 1930, vor allem aus der theoretischen Physik, der Philosophie, der Theologie und der Soziologie. Ein besonderer Witz des Textes besteht darin, dass Ganghofer zwar hochintelligent ist, viele Gegenstände aber nur halb versteht, wobei sich der Roman an diesen Passagen in komplizierten Wortspielen gefällt. Zum Beispiel ist Ganghofer ein glühender Verehrer Friedrich Nietzsches, und so macht sich der Roman einen Spaß daraus zu zeigen, wie der Held diesen Philosophen unablässig missversteht, weil er diesen in in einer schlechten französischen Übersetzung liest.
Der Übersetzer muss also drei sprachliche Schichten berücksichtigen: die komplexe Sprache des Protagonisten, die französischen Verfälschungen und schließlich den originalen Nietzsche, der trotz allem durch die anderen Sprachschichten sichtbar gemacht werden muss.

Mit derartigen Problemen hatte Kromschmidt auf jeder Seite des Romans zu kämpfen, mal ging es um Philosophie, mal um Insektenkunde, ausgestorbene Kartenspiele, um gewisse Tätowierungen, an denen sich die Mitglieder krimineller Banden erkannten oder um Neologismen, die unter den Kindern der Oberschicht verbreitet waren.

Nach fünf Jahren war Kromschmidt stolzer Übersetzer von zweihundert Seiten, einem Viertel des Romans. Zu diesem Zeitpunkt lebte Fernando Rivas noch, in Buenos Aires, er war allerdings über neunzig Jahre alt, blind und besaß kein Telefon. Kromschmidt musste mit ihm brieflich und über dessen Haushälterin kommunizieren, eine freundliche Südkoreanerin, die wenig Spanisch sprach und selbstverständlich weder Deutsch noch Englisch. Rivas zeigte sich durchaus bereit, die unzähligen Fragen zu beantworten, die das Verständnis seines Romans betrafen, jedoch stellte sich rasch heraus, dass er dessen Inhalt nur noch in groben Zügen wusste und dass ihn mit dem dreißigjährigen Schriftsteller, das ihn verfasst hatte, nicht mehr verband als ein gewisser feuriger Starrsinn.
Nachdem Kromschmidt mehr als zwei Drittel des Buches übersetzt hatte, verfestigte sich der Eindruck, dass er den Text bisher zu oberflächlich gelesen hatte. Tatsächlich nahm der Roman auf gewisse musikalische Formen Bezug, die durchaus wichtiger waren als die beschriebenen Sprachparodien, die ihm so große Mühe gemacht hatten, ja auf fast allen Seiten enthielt der Roman Verweise auf Musik, wie hatte er das nur übersehen können!

Als Kromschmidt diese Dinge erkannt hatte, machte er eine Überschlagsrechnung seiner bisherigen Arbeit. Der geduldige Verlag zahlte ihm 20 Euro pro Seite, das war eine vergleichsweise ordentliche Vergütung. 16.300 Euro würde er insgesamt an der Übersetzung verdienen. Falls er an jenem Tag fertig geworden wäre (was nicht der Fall war), hätte er 170 Euro im Monat verdient.

Gegenüber seiner Frau, von deren Gehalt er lebte, und die ihn behutsam auf gewisse Missverhältnisse bei seiner Tätigkeit hinwies, bemerkte er, in Abwandlung eines berühmten Satzes aus der Seefahrt: "Übersetzen ist notwendig, leben ist nicht notwendig". Ungeachtet dieser alle Ökonomie verachtenden Stellungnahme brach Kromschmidt seine Arbeit nach einem weiteren Jahr ab, denn er war zu einer überraschenden Einsicht gekommen: Die Qualität von Rivas Roman war im Grunde relativ mäßig, was jedoch nur ein leidenschaftlicher Übersetzer erkennen konnte, denn kein anderer war in der Lage, so tief in die Geheimnisse des Textes (die keine waren) einzudringen.

Die bisherige Übersetzungsaktion, gestand Kromschmidt wenig später einem Kritiker, sei ein einziges Missverständnis. Er, Kromschmidt, stehe übrigens offen zu seinem Scheitern, das aber nur ein vorläufiges Scheitern sei, denn hinter ihm wüsste er jüngere Kollegen, die darauf brannten, sein Werk fortzusetzen.

 
 
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