- Jürgen Kiel, Autor

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Literatur
 
 

In meinem Bekanntenkreis gelte ich als belesen. Alles ist relativ, im Vergleich zu Borges bin ich ein Nichtleser. Indessen bin ich sicher, dass ich zu den glücklichen Lesern gehöre, weiß ich doch, was ich nicht lesen möchte. Leseerfahrung und Charakter helfen mir, das Nichtzulesende auszusortieren. Manchmal werde ich belohnt durch das angenehme Gefühl, das die überraschte Reaktion auf ein gut platziertes „Nein" verursachen kann.


Bücher, die ich nicht lese

Romane, die mit großer Anteilnahme und „auf sehr tolle, nachvollziehbare Weise" das Thema Alzheimer/Demenz „umsetzen".

Gedichtbände, von denen lediglich gesagt wird, sie seien „hochpoetisch".

Neunhundertseitige Familienromane, insbesondere jene, die US-amerikanische Mittelstandsfamilien beschreiben und als literarische Sensation der Saison annonciert werden, die jedoch von langweiligen Männern mittleren Alters geschrieben wurden, die auf Feuilletonseiten umständlich ihre Hobbys beschreiben.

Neunhundertseitige Familienromane, insbesondere jene, die von sendungsbewussten Migrantinnen aus Weitwegistan geschrieben wurden und die als „bilderreich und emotional bewegend" beschrieben werden.

Romane, die von „großen alten Männern" der Literatur geschrieben wurden, die sich regelmäßig zu politischen Themen äußern, auch provokativ, mit der durchsichtigen Absicht, so auf ihre Romane aufmerksam zu machen.

Texte, ihre Romane mit aktuellen politischen Themen plakatieren.

Romane, die von jungen Leuten handeln, die aus der Provinz nach Berlin ziehen, um dort Bekanntschaft mit Sex, Drogen und dem Überdruss zu machen, sowie alle diesen auch nur entfernt ähnliche Romane.

Romane, bei denen vor allem die darin befindlichen „ungewöhnlichen Bilder" gelobt werden, wobei der Rezensent sich eine beliebige Metapher herauspickt, diese lobt und anschließend in den Roman zurücksteckt.

Gut erzählte, launige Geschichten aus der Ex-DDR.

Romane, die TV-Serien gleichen. Romane, die geschrieben wurden, um „verfilmt" zu werden.

Bücher von Autoren, die bei jeder eine Woche später wieder vergessenen Unterschriftenaktion mitmachen (gegen den Krieg, gegen den Pelztierhandel, gegen das Internet, gegen schlechte Bücher) oder diese Aktionen sogar anzetteln.

„Experimentalromane", die so wirr geschrieben sind, dass naive Kritiker meinen, hier schriebe der neue James Joyce.

Bücher von Autoren, deren Texten man anmerkt, dass sie noch nie etwas von zum Beispiel Flaubert, Joyce, Kafka, Nabokov und Arno Schmidt gelesen haben.

Bücher von Autoren, die zum Beispiel Flaubert, Joyce, Kafka, Nabokov und Arno Schmidt gelesen haben und meinen, das Gleiche noch einmal machen zu müssen.

Thomas Bernhard-Nachahmer.

Erschröckliche Kindheitsgeschichten aus der österreichischen (ostdeutschen) Provinz (mit schlagenden Vätern und betrunkenen Ziegen).

„Unglaublich sensible" sogenannte „Coming of Age"-Geschichten.

Romane, die ihre Figuren verständnisvoll/gerecht/nicht-denunzierend oder sonstwie politisch korrekt behandeln.

Bücher von Kindern von Eltern, die führend in irgendeinem Kulturbetrieb aktiv sind.

Gedichtbände, die man sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen kann.

Bücher, bei denen vor allem die Ausstattung gelobt wird.

Bücher, in denen sogenannte Tabus wie auch immer „gebrochen" werden.

Bücher von Autoren, die es fertigbringen, gleichzeitig in Berlin, New York, Shanghai und der Toskana zu leben.

Romane, die angeblich den Vorteil haben, dass man durch ihre Lektüre irgendein Land oder eine Region „besser versteht".

Bücher, die gerühmt werden, weil ihr Inhalt „schwer erträglich" sei.

Gedichte, die vor gelehrten Anspielungen, vornehmlich aus der Antike, überquellen, und deren Subtext lautet: „Ich und Homer" bzw. „Ich und Ovid".

Umfangreiche Romane, die von allen Kritikern bejubelt werden, abgesehen von einem sauertöpfischen aber kompetenten Kritiker, welcher meint, dass der Verlag die 1.800 Seiten bequem auf 180 hätte reduzieren können.

 
 
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